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       Andreas Hüneke 
       
      Heilende Narben 
       
      Manche Künstler bauen ihr Werk planvoll und geradlinig, Stein auf Stein 
      setzend, solide verfugt. Bei Olaf Wegewitz vollzog sich der Prozeß eher 
      nach Art eines Puzzles, dessen einzelne Teile schön anzusehen sind, die 
      man aber etwas ratlos hin und her schiebt, bis man ihre richtige Position 
      entdeckt hat und sie sich plötzlich im Zusammenhang des gesamten Bildes 
      erschließen. Dieses Gesamtbild seines Schaffens steht heute in seinem 
      Grundcharakter deutlich vor uns, und so überraschende Details sich noch 
      hinzufügen können, wird von ihnen, wie ich glaube, der Grundcharakter doch 
      nur bestätigt oder noch klarer herausgearbeitet werden. 
      Es war überraschend, in Leipzig Ende der siebziger Jahre auf einen Maler 
      zu stoßen, der sich nicht an der Neuen Sachlichkeit oder dem Verismus 
      orientierte sondern an Oskar Schlemmer, dem Bauhaus und am russischen 
      Konstruktivismus. Die allzu offensichtliche Anlehnung an Schlemmer hatte 
      Wegewitz bereits überwunden. »Als Gemeinsames ist die konstruktive 
      Grundhaltung und die zugleich lyrische Empfindsamkeit geblieben«, schrieb 
      ich, als ich Wegewitz 1980 in der Zeitschrift »Bildende Kunst« vorstellte. 
      In den Bildern von den Fischerhäusern auf Hiddensee zeigten sich neben dem 
      von Fachwerk und Türrahmen angeregten konstruktiven Gerüst in der 
      Farbbehandlung der Flächen und über das Bild gespannten Drähten informelle 
      Elemente. Dieses Nebeneinander war auch bei Hermann Glöckner und anderen 
      konstruktiv arbeitenden Künstlern zu finden und schien in die gleiche 
      Richtung zu weisen. Mit Umdrucktechniken brachte Wegewitz Zeitungsausrisse 
      auf Zeichenkarton und setzte sie mit Hilfe unterbrochener geometrischer 
      Streifen in neue, geheimnisvolle Zusammenhänge. Daß es sich hierbei schon 
      um Spurensicherung handelte, ebenso wie bei den Abreibungen von 
      verwittertem Holz oder Putzritzungen, erschloß sich noch nicht sogleich. 
      Das Material war ihm von Anfang an wichtig, und er besitzt dafür ein hohes 
      Feingefühl. Man braucht nur mitzuerleben, wie der Künstler ein Papier, ein 
      Stück Holz, eine Pflanze in die Hand nimmt, wie seine Finger die 
      Materialien erspüren, um zu verstehen, worum es dabei geht. Wie viele 
      Künstler des 20. Jahrhunderts suchte Wegewitz das Einfache, das 
      Ursprüngliche. So begann er, selbst Papiere aus unterschiedlichen 
      Rohstoffen herzustellen. Im gleichen Zuge verschwand das Konstruktive aus 
      seiner Kunst und die ohnehin zurückhaltende Farbigkeit reduzierte sich auf 
      Schwarz, Grau und Braun. Die intensive Beschäftigung mit Quellen zur 
      Technik handgeschöpfter Papiere schien nur Mittel zum Zweck zu sein, 
      bestimmte Fertigkeiten zu erlangen. Für die Erkenntnis, daß sich hier 
      erstmals eine werkprägende Methode manifestierte, die Kunst aus 
      historischer Forschung zu entwickeln, fehlten die Zusammenhänge.  
      Dann entstanden die ersten Bücher - fragile und phantasievolle Gebilde oft 
      spielerischer Anmutung, alle von dieser umfassenden Liebe zum Material 
      bestimmt. Wiederum schien die von 1983 bis 1986 entstandene 
      Gemeinschaftsproduktion mit Frieder Heinze »Unaulutu« mit ihrem 
      theoretischen Hintergrund einer alten Indianerkultur eher die Ausnahme 
      einer Auftragsarbeit für den Reclam-Verlag in Leipzig zu sein. Auf dem 
      legendären Leipziger Herbstsalon zeigte Wegewitz abstrakte Gemälde und 
      kaschierte Papiere. 1986 beobachtete ich für die Ausstellung in der 
      Deutschen Bücherstube in Berlin, »wie unter den Händen von Olaf Wegewitz 
      die nichtigsten Dinge - ein Stück zerknittertes Papier, ein altes 
      Rechnungsbuch, ein mit einem Stück Holz zusammengebundener Stein, eine 
      trübe Farbe, eine wie zufällig erscheinende Linie - zu Trägern des 
      Künstlerischen werden, wie sich in ihnen Sensibilität vermittelt, getragen 
      von Liebe zum Material und Achtung der Form.« 
      Die von so vielen geschätzten handgeschöpften Brennessel-, Distelsamen- 
      und Pflaumenrindenpapiere verschwanden wieder aus dem Schaffen von 
      Wegewitz. Geblieben ist die außerordentliche Kenntnis der Pflanzen und 
      ihrer Eigenschaften, die seither immer weiter vertieft wurde. Die 
      Buchproduktion, die sich mehr und mehr mit naturgeschichtlichen Themen 
      befaßte, schien neben den Zeichnungen und Holzschnitten einherzugehen, die 
      zwar teilweise in die Bücher aufgenommen wurden, aber deren immer stärker 
      hervortretender inhaltlicher Bestimmtheit scheinbar fern blieben. 
      Allerdings tauchten neben den informellen Elementen jetzt auch wieder 
      Zeichen, gelegentlich sogar figürliche Andeutungen auf - und schließlich 
      kehrte die Farbe in die Arbeiten zurück.  
      Erst mit den großen thematischen Projekten erschloß sich mir das Bild, 
      dessen Teile ich um und um gewendet hatte. Dabei braucht man bloß in das 
      1994 erschienene Verzeichnis der »Bucharbeit« von Olaf Wegewitz zu sehen, 
      um die Stringenz der Entwicklung vom frühen »Herbarium« über das »Große 
      Buch vom Nestbau« mit dem von Wespen produzierten zartgrauen Papier und »Unaulutu« 
      bis zum »mikrokosmos« und zu »Nanna. Die Beseelung der Pflanzen« zu 
      erkennen. 
      Es gibt selten einen Künstler, dessen Schaffen sich so wie bei Wegewitz 
      zwar aus Einzelwerken zusammensetzt, das aber in ihrer und seiner 
      Gesamtheit eine neue Dimension erreicht, ja mit dem Leben des Künstlers 
      selbst ein Gesamtkunstwerk ergibt. Was uns hier entgegentritt, ist 
      Erinnerungskunst. Wegewitz holt die Erinnerung an das Denken des Menschen 
      über Natur und seinen Umgang mit ihr in die Gegenwart und setzt sie in 
      Kunst und eigenes Handeln um. Komplizierte Zusammenhänge werden dabei 
      einfach und klar, schwierige Gedankengänge sinnlich erfahrbar. ›Modernste‹ 
      Kunstmittel verbinden sich mit den alten Qualitäten einer künstlerischen 
      ›Handschrift‹. Die gegenwärtigen Mißstände im Umgang mit der Natur werden 
      nicht verschwiegen, aber auch nicht mitleidlos auf den Seziertisch gelegt 
      und angeprangert. Wegewitz läßt uns ahnen, daß es doch einen Weg zur 
      Hintertür des Paradieses und zum rettenden Baum der Erkenntnis geben 
      könnte. Mir fällt zur Charakterisierung dieser Kunst immer ein Vers aus 
      einem Gedicht Wassily Kandinskys ein: »Heilende Narben - entsprechende 
      Farben«. Das Werk von Olaf Wegewitz können wir uns wie ein Heilpflaster 
      auflegen.  |